Mittwoch, 15. Juli 2009

Ein Gerichtssaal in Italien

Arezzo, ein heißer Juliabend. Urteilsverkündung im Prozess gegen Luigi Spaccarotella, den Polizisten, der im November 2007 den Discjockey Gabriele Sandri erschoss. Sandri war mit anderen Lazio-Fans auf dem Weg zu einem Auswärtsspiel. Auf einem Autogrill-Parkplatz kam es zwischen den Laziali und ein paar Juve-Fans zu einem Gerangel. Die Römer reisten mit Messern. Sandri und seine Freunde gehörten zur Kurvengruppe "In basso a destra", rechts unten. Das alles konnte Spaccarotella nicht wissen, als er schoss. Warum er schoss, hat auch das Gericht in Arezzo nicht klären können. Wieso zückt ein Polizist die Dienstwaffe, wenn er sieht, dass sich auf einem Autobahnparkplatz junge Männer raufen? Sandri und seine Freunde wollten überdies gerade abfahren. Einige Zeugen haben vor Gericht bestätigt, dass sich die jungen Männer bereits im Auto befanden, als der Polizist auf sie schoss.
Spaccarotella bekam gestern abend sechs Jahre wegen fahrlässiger Tötung. Der Staatsanwalt hatte 14 Jahre wegen Totschlags gefordert. Schon während des Urteilsspruchs kam es zu Tumulten im Saal. Die Freunde des Toten beschimpften die Richter: Narren, Bastarde, Scheißkerle. Carabinieri führten sie hinaus.
Gabriele Sandris Vater kündigte an, sofort die Arbeit in der "Stiftung Gabriele Sandri" einzustellen. Die Stiftung war eine Art Fanprojekt. Der Vater Sandri äußerte außerdem, er schäme sich dafür, Italiener zu sein und er könne sich nicht vorstellen, dass sein älterer Sohn Cristian jemals wieder einen Fuß in einen italienischen Gerichtssaal setzen wolle. Cristian Sandri arbeitet als Rechtsanwalt.
Die Enttäuschung eines verwaisten Vaters ist immer verständlich. Man muss sich aber auch fragen dürfen, warum in der ersten Erregung über ein zu milde empfundenes Urteil gerade solche Sätze fallen. Und nicht andere. Das Schwurgericht in Arezzo hat sich seine Aufgabe nicht leicht gemacht. Ist die Überreaktion eines Polizisten im Dienst Totschlag oder noch fahrlässig? Das war die Frage. Im Hinterkopf hatte das Gericht: Die Atmosphäre zwischen Polizei und Ultras war seit dem Tod eines Beamten bei Krawallen um das Stadion von Catania extrem aufgeheizt. Polizisten und Stadion-Randalierer standen sich feindlich gegenüber. Wie in einem Krieg.
In der Nacht nach Gabriele Sandris Tod haben angebliche Roma- und Lazio-Ultras die Gegend um das Olympiastadion nachgerade terrorisiert, den Sitz des NOK verwüstet, Busse gekapert, eine Polizeikaserne attackiert, Müllcontainer, Mopeds und Autos in Brand gesteckt. Wie werden die Kurven auf diesen Urteilsspruch reagieren? In Rom wurden heute Nacht zwei Männer festgenommen, die Steine und Flaschen auf ein Polizeiauto geworfen hatten. Bei der Durchsuchung ihrer Wohnungen wurde das übliche Fascho-Material festgestellt, über das sich in Italien niemand mehr aufregt.
Ein Urteil wird hier übrigens erst nach der letzten Instanz rechtsgültig. Was bedeutet: Spaccarotella muss vorerst nicht in den Knast. Und der Staatsanwalt wird in Revision gehen.

1 Kommentar:

altravita hat gesagt…

Mithin erst einmal ein "politisches Urteil"? Um einerseits die Curva zu beruhigen, die bei einem Freispruch sicher kaum zu bändigen gewesen wäre und andererseits Spaccarotella nicht gleich 15 Jahre hinter Gitter zu bringen und damit die "Celerini" gegen sich aufzubringen? Ich frage nur, weil, so schwer es sich das Gericht in Arezzo auch gemacht hat: Entweder Freispruch oder Totschlag, einen echten Anhalt für "Fahrlässigkeit" (im Sinne von Unfall beim vorschriftengemäßen Gebrauch der Dienstwaffe) kann ich beim besten Willen nicht sehen. Weil, dass er da stand und gezielt schoss, ist ja unstrittig.

Was die '07 herrschenden Kriegszustände angeht, ist das menschlich vielleicht sogar nachvollziehbar (Bonini docet), sollte vielleicht bei der Beurteilung des konkreten Tatbestands aber weniger ins Gewicht fallen. Zumal es ja nicht gerade die Agenten der Polstrada waren, die ganz vorn an der Frontlinie standen und stehen, doch eher die mobilen Einsatzkommandos. Aber dass Spaccarotella an jenem vermaledeiten Novembertag wusste, ob er es gerade mit "BISL" oder "in basso a destra" oder sonstwem zu tun hatte, glaube ich in der Tat auch nicht.